Holger Brülls
In letzter Zeit fand die deutsche Glasmalerei ungewöhnlich große Aufmerksamkeit, auch im internationalen Kontext. Manche, die sich bislang eher wenig für diese Kunstgattung interessierten und nichts von ihrer Hochblüte in der Moderne wussten, meinten gar, eine Wiedergeburt mitzuerleben. Die weltweit beachteten Fensterprojekte von Gerhard Richter, Markus Lüpertz, Sigmar Polke und Imi Knoebel, dazu große Ausstellungen wie die Thorn-Prikker-Retrospektiven in Rotterdam und Düsseldorf, die der Klassischen Moderne der Glasmalerei gewidmete Präsentation im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe und zuletzt die Präsentation des Lebenswerkes von Ludwig Schaffrath (1924–2011) im Deutschen Glasmalereimuseum in Linnich haben klargemacht, welche ästhetische Faszination die Glasmalerei als monumentale Kunst zwischen Architektur und Malerei auszuüben vermag. Zuletzt gelang in der großen Ausstellung „Deutsche Glasmalerei der Gegenwart“ im Centre International du Vitrail in Chartres die längst fällige Zusammenführung der modernen Klassiker, der jüngeren Künstlergeneration und der berühmten „Quereinsteiger“. Diese Ausstellung wird 2014 in erweiterter Form im Naumburger Dom gezeigt werden.
Insofern kommt eine umfassende Publikation über das Schaffen von Jochem Poensgen zur rechten Zeit. Der Rückblick auf ein derart vielgestaltiges, phantasievolles und experimentierfreudiges Lebenswerk wirkt, da uns Vergangenes auf einmal verblüffend frisch vorkommt, immer irgendwie auch wie ein Ausblick. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch ganz und gar unhistorisch. Es darf und soll in einem zukunftsorientierten Sinne als Materialreservoire, Fundgrube, vielleicht auch Impulsgeber für neue Ideen wahrgenommen werden und brauchbar sein. Vieles von dem, was heute in der Glasmalerei als neu und experimentell gilt, hat Jochem Poensgen früh ausprobiert und umgesetzt, ohne darauf je einen avantgardistischen Eigentumsanspruch zu erheben. Die deutsche Glasmalerei der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt ihm – darin Künstlern wie Georg Meistermann, Johannes Schreiter und Ludwig Schaffrath vergleichbar – Weltgeltung und international schulebildende Wirkung.
Poensgens künstlerische Anfänge sind wie die seiner Generationsgenossen in den 1950er und frühen 1960er Jahren von abstrakten und informellen Tendenzen der westdeutschen Nachkriegsmalerei geprägt. Früh aber hat sich Poensgen von einer Glaskunst abgewandt, die sich am Ideal „freier“ Malerei orientiert, und stattdessen den Raum und die architektonische Funktion des Lichtes zu seinem eigentlichen künstlerischen Thema gemacht. Kein anderes Oeuvre der zeitgenössischen Glasmalerei ist an experimentellen Neuansätzen und tiefgreifenden Stilwechseln so reich wie das Poensgens. Keins auch sucht in solch voraussetzungsloser Radikalität immer wieder nach neuen und individuellen Lösungen für die Verbindung von Architektur und Glasgestaltung.
Das vorliegende Buch ist daher mit Blick auf die Verhältnisse im Labor Poensgen bewusst als Arbeitsbuch, als Werkstattbericht und als Dokumentation angelegt. Zum ersten Mal wird ein Überblick über das weitgehend unbekannte Frühwerk Poensgens möglich, dessen Kern die großartigen Arbeiten in Betonglastechnik sind. Zugleich wird Poensgen als Maler und Grafiker sichtbar. Die nun in voller Länge nachvollziehbare Werkkette wird es künftig erschweren, Poensgen als „Glasmaler“ und damit nur als Spezialisten wahrzunehmen. Der Maler und Grafiker wird in diesem Buch zum ersten Mal in eigenen monografischen Beiträgen ausführlich gewürdigt, damit nicht nur „der unbekannte Poensgen“ sichtbar werde, sondern, nach Möglichkeit, der ganze. Desweiteren ist Raum für öffentlich nie präsentierte architekturbezogene Arbeiten des Künstlers, die bedauerlicherweise nur Entwurf geblieben sind und doch wichtige Beiträge zur Geschichte der modernen Glasmalerei sind. Darüberhinaus ist das Buch ein Lesebuch, das mit dem Theoretiker Poensgen bekannt macht. Poensgens Kunstdenken kommt hier zum ersten Mal umfassend in seinen Texten zum Ausdruck, die nie belehrend und stets erhellend sind.
Die Zukunft der Glasmalerei ist heute nicht nur davon abhängig, was Künstler können. Sie können viel. Und nach wie vor profitiert die deutsche Glasmalerei im internationalen Bereich von ihrer professionellen Nähe zur Architektur und von der hohen kunsthandwerklichen Kompetenz der weltweit renommierten Werkstätten, mit denen die Künstler ihre Entwürfe umsetzen.
In noch höherem Maße aber hängt die Zukunft der Glasmalerei davon ab, ob Architekten und Auftraggeber mit dieser Kunst etwas anzufangen wissen, ob sie künftig in der Lage sein werden, sich ihrer im Sinne architektonischer Intentionen und räumlicher Funktionen gezielt zu bedienen und ihr so Wirkungsräume aufzuschließen. Glasmalerei ist nicht „Kunst am Bau“, sondern Teil des Bauens und Teil der Baukunst. Nur als architektonische Kunst vermag sie künstlerisch zu überzeugen.
Leider ist das künstlerische, aber auch das architekturhistorische Wissen um die ästhetischen Belange des Raums und den zen-tralen Stellenwert des Lichtes heute im rapiden Schwinden begriffen. Wer mit Architekten, Denkmalpflegern und Kunsthistorikern spricht, die in der kirchlichen Kunstpflege, in Museen und im Bauwesen tätig sind, wird oft genug feststellen, dass das Wissen um den essentiellen Stellenwert von Glasmalerei und Glasgestaltung in der Architektur kein Allgemeingut mehr ist. Den Schaden hat nicht die Glasmalerei, sondern die Architektur. Im akademischen Rahmen droht der Architektur die Glasmalerei als Dialogpartnerin verloren zu gehen, seitdem die wenigen deutschen Kunsthochschulen, die Glasmalerei als Studienfach anbieten, beflissen sind, die ehedem architekturbezogene monumentale Kunstgattung einem museal und galeristisch verengten Begriff von „freier“ Malerei oder gar von Objekt- und Installationskunst anzugleichen.
Jochem Poensgen gehört seit vielen Jahren zu den energischsten Verfechtern einer Glasmalerei, deren ästhetische Motive ausschließlich räumlich-architektonischer Natur sind. Der Herausgeber hat den persönlichen Kontakt zum Künstler im Jahr 2005 auf dienstlichem Wege gefunden: bei der anfangs scharf umstrittenen Neuschaffung aller Fenster in der romanischen Klosterkirche in Jerichow (Sachsen-Anhalt), einem der Hauptwerke mittelalterlicher Backsteinarchitektur in Norddeutschland, die er als Denkmalpfleger vorzubereiten und zu begleiten hatte. Die architektonische Auffassung und die fragende, forschende Arbeitsweise Jochem Poensgens hat er damals aus der Nahperspektive miterleben dürfen – mit bleibenden Einsichten in die Natur und Dynamik gestalterischer Prozesse, die sich auf architektonische Räume beziehen.
Die dem Künstler durch langjährige Zusammenarbeit verbundenen Autoren dieses Bandes und der Herausgeber hoffen, dass etwas von dieser Naherfahrung des Phänomens Poensgen auf alle überspringt, die das Buch zur Hand nehmen und sich dann den künstlerischen Arbeiten Poensgens vor Ort im Raum leibhaftig aussetzen.
In diesem Zusammenhang muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass manches Werk des Künstlers schon pure Geschichte, sprich: zerstört ist. Die Verluste sind im Werkverzeichnis notiert. Die 2007 abgerissene Dinslakener Christuskirche und die bei Drucklegung dieses Buches ihrem Abriss entgegensehende Kirche Maria zum Frieden in Haan besaßen bzw. besitzen Betonglaswände, die zu den wichtigsten Leistungen Jochem Poensgens zählen, und sind zugleich beachtliche Leistungen der Sakralarchitektur der 1960er Jahre. Sie fallen einer Entwicklung zum Opfer, der auch der gesetzliche Denkmalschutz nicht hinlänglich Einhalt zu gebieten vermag. Immerhin gibt es Überlegungen, die -Haaner Betonglaswände an anderer Stelle einer baulichen Verwendung zuzuführen. Wie die Kirchenbauten der 1960er Jahre sind auch die mit ihnen fest verbundenen Werke der
Glasmalerei mittlerweile eine bedrohte Kunst-gattung der Nachkriegsmoderne geworden.
Herzlicher Dank gebührt den Autoren, dem Verlag Schnell & Steiner für die Realisation des Werkes sowie dem Münchner Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst e.V. für die großzügige Förderung dieser Publikation. In Friedrich Lux und Mathias Behne konnten Buchgestalter gewonnen werden, die in vielfach bewährter Weise den speziellen visuellen Anforderungen, die die Präsentation von Glasmalerei im Printmedium stellt, gerecht geworden sind.
Dieses Buch über Jochem Poensgen ist kein Buch über einen Künstler, sondern eins über Kunst. Deshalb dankt der Herausgeber im Namen aller Autoren – aber auch im Namen künftiger Leser – dem Künstler für den ebenso animierenden wie freiheitlichen Stil der Zusammenarbeit, aus dem heraus eine solche Veröffentlichung nur entstehen kann. Sie ist nicht diktiert von den Ansichten eines Künstlers über sich selbst und sein Werk, sie gibt dem Blick der Anderen Raum, dem Blick von außen. Wer Jochem Poensgens Arbeit und ihn selbst kennenlernt, spürt sehr bald, wie wichtig diesem Künstler eine solche „exterritoriale“ Perspektive für sein eigenes künstlerisches Tun ist. Und dass der bedrängungsfreie Dialog, den er mit dem Raum und der Architektur aufzunehmen versucht, auch sein kommunikatives Ideal in jedweder Arbeitssituation ist. Das Einnehmende und Anrührende der Kunst von Jochem Poensgen liegt nicht zuletzt darin, dass sie Abstand wahrt.
Holger Brülls
Halle (Saale), im Februar 2013